Zwei Klangkünstler tasten sich voran
Liestal Gerold Ehrsam stellte im Dichter- und Stadtmuseum seinen Gedichtband «warum nicht zwai» vor
Gerold Ehrsam, Lyriker und Performer aus Liestal, bezeichnet sich selber als «Wörterer». Also als einer, der Wörter produziert. Aber nicht in Massenproduktion, sondern wie ein sorgfältiger Handwerker. Kurze Zeilen, viel Weissraum, das ist der erste Eindruck, den man erhält, wenn man seinen zweiten, 2020 erschienenen Gedichtband «warum nicht zwai» aufschlägt. Wort um Wort bringt Gerold Ehrsam hervor, und während dieses Prozesses wägt er sein Produkt ab, misst es, erfasst es in Klang und Bedeutung – und gerät manchmal selber ins Staunen über das Geschaffene. «Ha, sagte er zum Fenster, dich hab ich durchschaut!»
Die Wörter, die Ehrsam denkt, aufschreibt, ausspricht, sind nicht nur fürs Papier gedacht, sondern auch für den mündlichen Vortrag. Ein kleines Publikum durfte den «Wörterer» vergangenen Freitag im Dichter- und Stadtmuseum Liestal in Aktion erleben. Passend zum Buchtitel «warum nicht zwai» holte sich Gerold Ehrsam den Pianisten Michael Giertz dazu, der zu den Texten improvisierte. Gemeinsam tasteten sie sich voran: Ehrsam mit seinem Wörter-Produktionsprozess und Tastenzauberer Giertz, einfühlsam reagierend, mit Klaviertönen. Glich die Zwiesprache der beiden Künstler anfänglich einem vorsichtigen «Abchecken», so kam sie bald ins Fliessen. Aus Akkorden wurden Läufe, taumelnde Walzer, malerische Hintergrundkulissen oder lärmige Trauermärsche, jeweils passend zum Sujet der Gedichte.
Der Tod ist ein Thema, das immer wieder auftaucht, manchmal unerwartet: «Mein Schrank, voller nützlicher Dinge fürs Leben, die mir den Platz verstellen – im Sarg.» Das Wort «Lebensmittelpunkt» suggeriert, dass das Leben mit einem Punkt beginnt und endet. Auch in Auslassungspunkten (gehörten, denn im Schriftbild verzichtet Ehrsam auf Interpunktion) kann der Tod mitschwingen: «Bei den Strümpfen brauche ich Hilfe, beim letzten Hemd...»
Gerold Ehrsam ist fasziniert von den Wörtern, von ihrer Etymologie, und auch davon, dass Klang und Sinn manchmal in grotesker Weise aufeinandertreffen. Aus faksimile wird fake simile, fake smile, fuck smile. Nicht leichtfertig geht er mit den Wörtern um, sondern wertschätzend. In Alltagswörtern sieht er Poetisches, sogar in medizinischen Diagnosen findet er Rhythmen und Alliterationen – Kniegelenkskompartiment, Knorpelausdünnung, Kollateralband – und manchmal auch lustige Pointen (die Michael Giertz jeweils mit einem Tusch quittierte.)
Ausgarnierte Linguistik
Die Live-Performance trägt natürlich ihren Teil dazu bei, dass die Gedichte wirken. Aber anders als bei Comedy oder Poetry-Slam geht es Ehrsam nicht darum, zu brillieren, sondern das Publikum an seinem Staunen über die Wörter teilhaben zu lassen. Etwa wenn er die signifikantesten Ausdrücke in den vier Landessprachen aus dem Jahr 2020, die «Zürcher Linguisten» zusammengetragen haben, «ein bisschen ausgarniert»: systemrelevante Maskensünder, Stosslüften, Coronagraben, quelle lutte contre la pandémie, quant extraordinari. Langsam lässt er sich die Wörter – ja Buchstaben – auf der Zunge zergehen: «und ... ewig ... lock ... t ... das Down.»
Sprachen wie Französisch (als Proust-Hommage), Rätoromanisch («mar gnüfla», «mar idaglia», «mar muognöz»), Italienisch oder Katalanisch lassen Ehrsam noch farbiger lautmalen, und eine malaiische Gedichtform mit ineinander verschränkten Zeilen, das Pantun, scheint wie geschaffen zu sein für ihn. Wobei es auch deutsche Lyriktraditionen sind, die ihm sein literarisches Schiesspulver liefern: «Es blüht der Kirschbaum – aus vollem Hals.» Michael Giertz liess dazu noch schnell einen musikalischen Blumenstrauss aufblühen, dann endete der rund einstündige Auftritt im Dichtermuseum.
Im Sommer wird das Museum übrigens umgebaut. Am 25. Juni ist die Finissage der Sonderausstellung über Jörg Shimon Schuldhess, am 27. August findet auf dem Zeughausplatz in Kooperation mit der Kantonsbibliothek ein literarisches Open Air statt.
www.gerold-ehrsam.ch
www.dichtermuseum.ch