Mit der Baselbieterfahne im Knopfloch
Buchbasel Alfred Gysin reiste 1906 nach Russland – seine Briefe sind jetzt in Buchform erschienen
Ein Sohn aus einer Liestaler Familie bekam 1906 eine Anstellung als Hauslehrer bei einem russischen Fabrikmanager. Von seiner Reise und seinen Alltagsbeobachtungen im Zarenreich be-richtete er in Briefen an seine Eltern. Der Enkel dieses Alfred Gysin fand den Briefwechsel im Nachlass seines Vaters und wandte sich damit an die Uni Basel, mit der Frage, ob die Aufzeichnungen von historischem Wert seien. Die Antwort lautete ja: Im Mai dieses Jahres hat der Christoph Merian Verlag die interessante Geschichte in Buchform veröffentlicht.
Das Buch «‹Russland von ferne oder aus der Nähe ansehen ist immer noch zweierlei›. Das Zarenreich 1906 bis 1907 in den Briefen des Schweizer Hauslehrers Alfred Gysin» ergänzt die transkribierten Briefe mit verschiedenen Essays. Am Literaturfestival «Buchbasel» von vergangener Woche erzählte der Herausgeber Frithjof Benjamin Schenk mehr über die Hintergründe.
«Russland war ein attraktives Auswanderungsland», sagte Schenk, der als Professor für Osteuropäische Geschichte und Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel lehrt. Für einen jungen, gut ausgebildeten Schweizer sei eine Anstellung als Hauslehrer eine gute Gelegenheit gewesen, Geld zu verdienen und Karriere zu machen. In finanzieller Hinsicht kam es für Alfred Gysin jedoch anders heraus als geplant: 1907 blieb ihm aus Geldknappheit nichts anderes übrig, als wieder in die Schweiz zurückzukehren, obwohl er davon träumte, herumzureisen, Moskau und Kiew zu sehen oder gar Gutsverwalter zu werden.
Stattdessen war dem 23-Jährigen beschieden, seinen Jahresaufenthalt in einer Kleinstadt im ukrainischen Donbass zu verbringen – immerhin eine «multikulturelle Boomregion» im frühen 20. Jahrhundert, wie Frithjof Benjamin Schenk meinte.
Die Erlebnisse von Alfred Gysin lassen sich einerseits als Reisebericht aus einem – damals wie heute als fremd empfundenen – Land lesen. Andererseits vermitteln sie auch ein Bild von den Ansichten, die in der damaligen Schweiz herrschten. Das Forschungsteam um Frithjof Benjamin Schenk analysierte, was Gysins Eltern in Liestal zu dieser Zeit überhaupt über Russland in Erfahrung bringen konnten. Überraschenderweise schrieben die Zeitungen viel über Russland, aber nicht in Form von Hintergrundreportagen, sondern von kurzen Telegrammen, die oft schwierig einzuordnen waren. Eine Nachricht erwähnt beispielsweise eine Bombenexplosion in der Region, in der Alfred Gysin war: Möglicherweise hätten die Eltern das gelesen und sich Sorgen gemacht, mutmasste Schenk.
Jedenfalls war eine Russlandreise damals mit Abenteuerflair verbunden, war doch die Revolution von 1905 noch nicht ganz abgeebbt. Zudem waren Eisenbahnfahrten etwas Spezielles, da teuer. In heutigen Massstäben hätte die Reise etwa 1500 Franken gekostet, rechnete Frithjof Benjamin Schenk aus. Allerdings sei, was uns heute als weit weg erscheine, leichter erreichbar gewesen, weil die Grenzen von Europa noch viel durchlässiger gewesen seien. «Es gab noch keinen roten Schweizer Pass, die Reisedokumente waren kantonal.»
Litaneien und Küsse
Wie in der Lesung von Iris Becher vom Christoph Merian Verlag deutlich wurde, schilderte Alfred Gysin seine interkulturellen Begegnungen sehr anschaulich. Er plauderte mit einem Kaufmann aus Baku und mit einem ehemaligen Kosakengeneral, spazierte auf der Durchreise in Berlin mit der Baselbieterfahne im Knopfloch, sang Schweizerlieder und liess in der Kirche die Litaneien über sich ergehen, wie auch die Küsserei am Osterfest. Es werde «schrecklich viel dem Alkohol gefrönt», beobachtete er, wobei ihm als Abstinenzler die sporadischen Besäufnisse weniger schädlich erschienen als das «Dauertrinken ohne Rausch» daheim in der Schweiz. Historische Untersuchungen bestätigen tatsächlich, dass in Russland damals durchschnittlich weniger getrunken wurde als in anderen Ländern, wie Frithjof Benjamin Schenk anmerkte.
Zwar passte sich der Liestaler «Russophile» ein Stück weit den einheimischen Gebräuchen an und pflegte während des Jahres viele Bekanntschaften. «Russifizieren» lasse er sich jedoch nicht, beruhigte Alfred Gysin seine Eltern in einem Brief. In seinem späteren Leben sollte der Abenteurer nie mehr nach Russland zurückkehren. Stattdessen wurde er Gymnasiallehrer in Basel – und die Episode im Zarenreich geriet im Familiengedächtnis, bis zur kürzlichen Wiederentdeckung, in Vergessenheit.