Hier war doch nichts – oder doch?
Nationalsozialismus Waldkirch, die Partnerstadt von Liestal, arbeitet ein dunkles Kapitel der Geschichte auf
Vergangene Woche, am 27.Januar, jährte sich die Auschwitz-Befreiung zum 76. Mal. Die Gedenkveranstaltungen mussten dieses Jahr wegen Corona vor allem virtuell stattfinden, als Livestream. Was dafür den Vorteil hatte, dass die Videos vielfach auf Social Media geteilt wurden. Wenn man Überlebende von damals erzählen hört – sei es auch nur am Bildschirm – dann treten einem die Schrecken des Nationalsozialismus eindringlich ins Bewusstsein. Aus Schweizer Sicht könnte man nun ausrufen: Das war ja alles lange her, es war eine andere Zeit und «Auschwitz» passierte weit weg von uns!
Aber der Nationalsozialismus hatte auch eine alltägliche Seite, und dieser Alltag spielte sich gar nicht so weit entfernt von uns ab. Beispielsweise in Waldkirch im Südschwarzwald, der Partnerstadt von Liestal (rund 15 Autokilometer von Freiburg entfernt, rund 100 von Liestal). Die Stadt befindet sich seit Jahrzehnten in einem langwierigen, kollektiven Aufarbeitungsprozess. Vor einigen Monaten hat dieser einen wichtigen Schritt vorwärts genommen: mit dem neu erschienenen Buch «Hier war doch nichts! Waldkirch im Nationalsozialismus».
Auf über 500 Seiten beschreiben die 27 Autor/-innen, wie die Nazis allmählich von der Stadt Besitz ergriffen und schliesslich alle Bereiche des Lebens «gleichschalteten». Beim Lesen stellt sich unweigerlich ein Gefühl der Beklemmung ein: Schon in den 1920er-Jahren verbreitete die NSDAP ihre Ideologie in der Gesellschaft, ab 1933 wurde dann das ganze Politik- und Verwaltungspersonal ausgewechselt, bis zum Bürgermeister. «Schritt für Schritt wurde die Anpassung zur Normalität», schreibt einer der Autoren.
An öffentlichen Gebäuden hing die Hakenkreuzfahne, eine Bücherverbrennung fand statt, Bürgerinnen und Bürger wurden denunziert und verhaftet, und kurz vor Kriegsende wurden sieben Deserteure erschossen. Waldkirch blieb auch nicht von der grausamen Praxis der Zwangssterilisation und der sogenannten «Euthanasie» verschont, der staatlich verordneten «Vernichtung lebensunwerten Lebens». Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen wurden aus Anstalten «verlegt», kurze Zeit später wurde ihren Familien eine Urne mit ihrer Asche zugesandt. Wie viele Waldkircher/-innen auf diese Weise ermordet wurden, lässt sich aufgrund fehlender Akten nur lückenhaft nachverfolgen.
Viele Abstufungen des Widerstands
Das Werk berichtet auch vom antifaschistischen Widerstand. Eine Erkenntnis ist, dass es dabei viele Abstufungen gab. Es war keinesfalls so, dass alle nur zum Schweigen und Erdulden gezwungen waren. Die Buchautor/-innen zeigen eine ganze Palette von Handlungsmöglichkeiten von Widerstand im Kleinen auf. So gab es Lehrpersonen, die ihren Schülerinnen und Schülern, wenn auch nicht offen, mindestens unterschwellig zu verstehen gaben, dass sie von der NS-Ideologie nicht viel hielten. Kirchliche Amtsträger spielten eine zwiespältige Rolle: Allzu oft redeten sie den Nazis das Wort, aber es gab auch Fälle, in denen sie mutig vor ihrer Gemeinde gegen Unrecht und Grausamkeiten aussprachen. Ein Pfarrer wurde, nach vielen Schikanen, von der Gestapo verhaftet und erst nach 21 Tagen wieder freigelassen.
In Waldkirch gab es auch organisierten Widerstand gegen die Nazis. In diesem Zusammenhang wird Basel als «Drehscheibe» erwähnt: Von Basel bis nach Berlin verlief ein Netzwerk aus Kurieren und Anlaufstellen, die sogenannte «Reichskurierlinie», auf der unter anderem illegale Literatur und Aufklärungsmaterial geschmuggelt wurde. Die Waldkircher Widerstandsgruppe konnte sich einige Zeit halten, bis ihre Mitglieder verhaftet wurden. Antifaschisten aus Waldkirch kämpften auch in Spanien gegen Franco und waren in der französischen Résistance aktiv.
Aus heutiger Sicht schwer verständlich ist, dass diese Leistungen nach dem Krieg eher verschwiegen wurden: Im Kalten Krieg hätten diese Widerständigen als «Landesverräter» gegolten, merken die Buchautor/-innen an.
Wie alles allmählich ans Licht kam
Schon im Einleitungskapitel des Buches wird klar, dass die geschichtliche Aufarbeitung kein einfaches Unterfangen ist. Mindestens drei Jahrzehnte lang sei in der Öffentlichkeit nicht über die NS-Zeit geredet worden, obwohl ehemalige SA- und SS-Angehörige immer noch an den Stammtischen gesessen hätten. Es wurde zwar von «Entnazifizierung» geredet, die alten Strukturen und Gesinnungen dauerten aber fort. Max Kellmayer, Bürgermeister von Waldkirch von 1933 bis 1945, kandidierte 1957 nochmals und hätte beinahe Erfolg gehabt! Auf der anderen Seite wurden viele belastende Akten vernichtet und Spuren systematisch verwischt, so wurden beispielsweise Verwaltungslehrlinge angewiesen, Hakenkreuzsymbole aus städtischen Unterlagen zu entfernen.
Es gab aber auch mehrmals Anläufe, Licht ins Dunkel zu bringen. Die Nazi-Bilder im Rathaus von Waldkirch wurden jahrzehntelang kontrovers diskutiert, es gab Auseinandersetzungen um ein Kriegerdenkmal und das Gymnasium benannte sich 1987 in «Geschwister-Scholl-Gymnasium» um. (Nach Hans und Sophie Scholl, die sich als Studierende in München gegen die Nazis engagierten und hingerichtet wurden.)
1989 erschien in Waldkirch eine Broschüre mit Zeitzeugenberichten und zufällig im gleichen Jahr wurde bekannt, dass eine Person aus Waldkirch, SS-Standartenführer Karl Jäger, während dem Krieg in Litauen die Ermordung von 138000 Juden und anderen geleitet hatte – was der Diskussion Aufschwung verlieht.
Eine treibende Kraft in der Aufarbeitung ist Wolfram Wette, des Herausgeber des kürzlich erschienenen Buches. (Siehe auch blauer Kasten links unten.) Er war es auch, der 2011 ein Buch über Karl Jäger veröffentlichte. Im gleichen Jahr wurde die «Ideenwerkstatt Waldkirch in der NS-Zeit» gegründet: Aus der ehrenamtlichen Quellenforschung entwickelte sich schliesslich das aktuelle Buch.
Dass dies überhaupt möglich war, ist auch einem gesellschaftlichen Wandel zu verdanken. In vergangenen Jahrzehnten war ein Teil der Gesellschaft darauf bedacht, «niemandem auf die Füsse zu treten», wie im Buch offenbar wird. Man habe «endlich einen Schlussstrich» unter die NS-Zeit ziehen wollen. Wolfram Wette war infolgedessen mehrmals persönlich angegriffen und bedroht worden. Zur Zeit der Rathausbilder-Diskussion wurde er als «unanständig» bezeichnet und die Einsicht in manche Archive musste er sich erkämpfen.
«Wacher Blick auf die Gegenwart»
Die Zeiten haben sich zum Glück geändert. «Bemerkenswert war, dass sich nach wenigen Sitzungen der Stadtarchivar für die Arbeit der Ideenwerkstatt stärker interessierte und in unregelmässigen Abständen daran teilnahm», schreibt einer der Autoren. Und das Buch ist nicht das einzige Projekt im Zusammenhang mit der NS-Aufarbeitung in Waldkirch: eine Stadtführung, ein Mahnmal, Erinnerungstafeln und ein Film zeugen davon, dass vieles in Bewegung gekommen ist. Im Lehrplan des «Geschwister-Scholl-Gymnasiums» steht, dass jede Schülerin, jeder Schüler die Namen von Karl Jäger – und den Namen eines widerständischen Soldaten, Heinz Drossel – gehört haben muss.
Der Flyer zum neuen Buch nimmt Bezug zum heutigen Aufkeimen des Rechtspopulismus und plädiert für eine starke Erinnerungskultur: «Wo auf diese Weise mit der Vergangenheit – und mit einem wachen Blick auf die Gegenwart – umgegangen wird, haben Rechtspopulismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Verharmlosung und Gleichgültigkeit keine Chance.»
«Hier war doch nichts!» Waldkirch im Nationalsozialismus, Wolfram Wette (Hrsg.), mit einem Geleitwort von Roman Götzmann, in Verbindung mit der Stadt Waldkirch und der Ideenwerkstatt Waldkirch in der NS-Zeit, erschienen als Bd. 5 der Reihe «Waldkircher Stadtgeschichte», Donat Verlag, Bremen, 2020
Erhältlich im Buchhandel oder beim Stadtarchiv Waldkirch, Marktplatz 1–5, 79183 Waldkirch, Deutschland,
stadtarchiv@stadt-waldkirch.de,
Tel. +4976814740857
Warum eine Lokalgeschichte des Nationalsozialismus?
Eine Lokalgeschichte des Nationalsozialismus kann zeigen, dass der landauf landab zu hörende Spruch «Hier war doch nichts!» als eine Nebelkerze darstellt. Denn die Nazis fassten in den Gemeinden und kleinen Städten ebenso Fuss wie in den Grossstädten. Der Blick auf die lokalen Verhältnisse kann uns zeigen, dass der Nationalsozialismus nicht wie ein Tsunami hereinbrach und, eh’ man sich versah, alles überschwemmte, sondern dass er schleichend in die Gesellschaft einsickerte. Es lässt sich zeigen, wie die Verfolgung der Widerständigen, die Ausgrenzung der Minderheiten und wie der Prozess der Selbstgleichschaltung aller möglichen Organisationen, eingeschlossen die Kirchen, im lokalen Umfeld funktionierte. In einer Kleinstadt ist der Nationalsozialismus nicht mehr weit weg – zum Beispiel «da droben in Berlin!» –, sondern ganz nah. Sie war der Ort, wo das Leben konkret war. Hier hatten die Nazis Namen und Gesichter. Das ist auch der Grund dafür, dass die Zeit des Nationalsozialismus in der eigenen Gemeinde besonders nachdrücklich verdrängt und mit Schweigen belegt wurde. Jede Erinnerung, jede Aufklärung löste Ängste aus. Zu Vieles hätte hochkommen können. Man klammerte sich daher an die Hoffnung, dass «endlich ein Schlussstrich» gezogen werden könne und niemand mehr in der schlimmen Vergangenheit «herumrühren» werde. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus: Auch für die NS-Geschichte «vor Ort» gilt: Nur eine der Wahrheit verpflichtete Aufklärung macht frei für verantwortungsvolles Handeln. Sie vermag einer Gemeinde ausserdem zur Ehre zu gereichen. Wolfram Wette
Wolfram Wette, Jg. 1940, Prof. Dr. phil., lebt in Waldkirch-Kollnau und ist Herausgeber des Buches «Hier war doch nichts! Waldkirch im Nationalsozialismus». Er lehrte und forschte unter anderem am Historischen Seminar der Universität Freiburg und war Stadtrat in Waldkirch und Vorsitzender der SPD-Fraktion.