Die letzten Jahre der Zwirnerei
Industriegeschichte Die Zwirnerei Niederschönthal existierte noch Jahre nach dem Ende der Ringwald AG weiter
Über die Florettspinnerei Ringwald in Füllinsdorf ist schon viel geschrieben worden. Weniger bekannt ist, was nach der Stillegung des Textilunternehmens im Jahr 1957 passiert ist. Die Fabrik war nämlich noch über ein Jahrzehnt länger in Betrieb und die Nachfolgefirma führte bis 1999 einen Laden.
Doch kurz ein Blick zurück in die Geschichte: 1822 wurde die Spinnerei von Markus Bölger gegründet, dessen Schwiegersohn Christian Ringwald das Unternehmen später übernahm und ihm seinen Namen gab. Rund um die Fabrik entstand ein Arbeiterquartier mit Wohnungen, Gärten, öffentlichem Bad, Krämerladen und Vereinen. Als Aktionäre stiegen bekannte Basler Familien wie Merian, Iselin und Preiswerk ein, später dominierte dann die Familie Alioth, der die «Schappe» (Société Industrielle pour la Schappe, SIS) in Arlesheim gehörte. Bei der Auflösung schrieben die damaligen Besitzer einen riesigen Gewinn: Dem Aktienkapital von drei Millionen Franken stand ein Liquidationserlös gegenüber.
Ulrich Facklam war damals erst 28 Jahre alt, als das Baselbieter Textilunternehmen – nun als Zwirnerei Niederschönthal AG – in seine Hände überging. Aufgewachsen war er an der Realpstrasse in Basel, als Enkel einer Engländerin und eines Zahnarztes aus Hamburg, der um 1900 eine der ersten Basler Zahnarztpraxen eröffnet hatte. Nachdem die rund 100 Arbeiterinnen und Arbeiter 1957 entlassen worden und die Fabrik bis 1960 leer gestanden hatte, stellte er nun wieder Personal ein. Zu 90 Prozent seien es Frauen gewesen, erinnert sich sein Sohn Martin Facklam an die Erzählungen seines Vaters. Viele Italienerinnen, zum Teil auch einige Türkinnen, hätten in der Zwirnerei gearbeitet. «Männer waren nur für wenige Sachen wie für die Instandhaltung der Maschinen eingestellt», berichtet Martin Facklam. Es dürfte sich um zwei, drei Mechaniker und eine Handvoll Lagerarbeiter gehandelt haben.
Vom Fasermaterial zur fertigen Spule
Bei der Florettseide-Spinnerei werden minderwertige Fadenteile, die bei der Seidenverarbeitung anfallen, zu Garn verarbeitet und zur weiteren Verwendung auf gebrauchsübliche Spulen aufgewickelt. Dies geschieht in einem mehrstufigen Prozess, bei dem das Fasermaterial wiederholt gestreckt, gedreht und umgespult wird, bis die gewünschte Dicke, Länge und Festigkeit, je nachdem auch Farbe, erreicht wird. Das fertige Garn, so wie es auch in Füllinsdorf aufbereitet wurde, kann dann zu Stickereien, Nähprodukten, Fäden, Gestricken, Seilen und anderen Produkten weiterverarbeitet werden.
Die Kundschaft der Zwirnerei Niederschönthal waren hauptsächlich Firmen in Deutschland, Belgien und Holland. Aber auch Schweizer Textilfirmen – die wenigen, die noch existierten – gehörten zu den Abnehmerinnen des Füllinsdörfer Garns. Eine davon war die Filtex AG in St. Gallen, die bis heute besteht. Dort lernte Ulrich Facklam Anfang der 60er-Jahre seine Frau kennen, die dort als Sekretärin tätig war.
Zur Qualitätskontrolle unterhielt die Fabrik in ihren Räumlichkeiten ein eigenes Labor, das unter anderem die Qualität, Feuchtigkeit, Länge und Farbe sowie die Anzahl der Fäden beziehungsweise Fasern, die ein Garn enthielt, überprüfte. Auch die Abnehmerinnen liessen ihrerseits Kontrollen durchführen, wie eine Geschäftskorrespondenz aus dem Jahr 1972 zeigt, der ein Messprotokoll über die Anzahl Flusen pro Million Fadenmeter beilag: «Wie Sie daraus ersehen, ist die von Ihnen gezwirnte Qualität auf einen sehr hohen Standard gekommen und wir möchten Ihnen dazu gratulieren», heisst es in dem Brief. Und weiter: «Wir bitten Sie freundlich, darauf zu achten, dass auch noch die letzten Auslieferungen auf gleichem Niveau erfolgen können ...»
Martin Facklam kann sich erinnern, dass sein Vater grossen Wert auf die Sicherheit im Betrieb legte: «Er hat ein paar Mal erzählt, dass er doch die eine oder andere Angestellte zurecht weisen musste, wenn sie nicht nach SUVA-Richtlinien gearbeitet haben.» Auch habe er immer von einem Mechaniker erzählt, den er ins Herz geschlossen habe. Weil er vom Baselbieter Justizvollzug zugeteilt worden war, um in der Firma zu arbeiten, habe er ihn «Häftling» genannt.
Ausserdem erinnert sich sein Sohn an die Hunde, die vor allem in der Nacht das Areal der Fabrik bewachten. Die Namen der Deutschen Doggen – Doggidoggi, Aranie und Ciriel – sind ihm im Gedächtnis geblieben. Ebenso die bis zu 30 Schafe, welche auf den umliegenden Wiesen grasten: «Damit gab es ab und zu dann im Hause Facklam gutes Schafsfleisch.»
Die Zwirnerei Niederschönthal betrieb auch ein kleines Flusskraftwerk in der Ergolz. Eine Turbine produzierte Strom für die gesamte Anlage – sogar mehr als genug: «Mein Vater hat immer wieder erwähnt, dass er es stupid fand, dass er der Elekto Baselland Geld zahlen musste, wenn er überschüssigen Strom ins öffentliche Netz gespiesen hat», erzählt Martin Facklam. Auch eine Kantine habe zur Fabrik gehört. Noch Jahre später habe sein Vater gut 100 Kantinenstühle, Schachteln voller Geschirr und viele Tische im Keller gelagert.
Unfall und Verkauf
1971 hatte Ulrich Facklam einen schweren Autounfall, als er in Deutschland unterwegs war, kurz vor der Geburt seines zweiten Sohnes Martin. Sein erster Sohn Ferdinand war damals zwei Jahre alt. Es folgte eine schwierige Zeit für den Betrieb. Ab Ende 1972 musste Ulrich Facklam die Unternehmenstätigkeit wegen den Auswirkungen des Unfalls und der langen Abwesenheit schrittweise einstellen. Mit Unterstützung seiner Frau Yolanda wurde die Zwirnerei Niederschönthal AG 1973/74 liquidiert.
Die Gebäude wurden verkauft, Ulrich Facklam behielt aber auf dem Grundstück ein kleines Bürohaus mit einem Laden, in dem er Textilen verkaufte. 1977 wurde dann auch diese Immobilie veräussert, worauf Ulrich Facklam die Liegenschaft an der Schmiedestrasse 1 in Pratteln kaufte und dort einen grösseren Laden unter dem Namen «Ergolz Textil» eröffnete. Privatkundinnen und -kunden, hauptsächlich aus der näheren Umgebung, fanden dort alles, was mit Textilien zu tun hat, wie Tischtücher, Bettwäsche, Vorhänge, Fäden, Wolle, sogar Teppiche, ausser Kleider. Der Laden bestand bis 1999, damals war Ulrich Facklam 67 Jahre alt. Die alte Bausubstanz der Zwirnerei Niederschönthal verschwand jedoch schon früher. 1982 wurde der letzte Hochkamin gesprengt.
Nach der Pensionierung half Ulrich Facklam immer wieder in der Sanitär- und Spenglereifirma seines Sohnes Martin in Basel aus, wo er zur Mittagszeit für die Arbeiter kochte. Den letzten Lebensabschnitt verbrachte er, zusammen mit seiner Frau Yolanda, in der Region Bern.
Weitere Fotos der Zwirnerei Niederschönthal und der Ringwald AG können auf der Website https://burkhart.jimdofree.com/zwirnerei/ betrachtet werden.
Buchtipp: Stefan Burkhart, Die Geschichte der Florettspinnerei Ringwald AG, 2018, erhältlich über obige Website oder in den Buchhandlungen Rapunzel und Poete-Näscht in Liestal und Pfaff in Sissach.