«Das Gefängnis machte mich fertig»
Liestal Ein ehemaliger Schwerverbrecher erzählte im Rahmen der Krimi-Reihe Liestal von seinem schwierigen Leben – und seiner zweiten Chance
Die Liestaler Krimi-Reihe 2022 (siehe ObZ von letzter Woche) startete in einem ganz speziellen Rahmen. In der Stadtkirche organisierten der reformierte Pfarrer Andi Stooss und sein katholischer Basler Kollege Luca Pontillo einen «jungen» Gottesdienst mit einem knallharten Gast und der Jugendband Childish.
Der Abend wurde durch das Gitarrenduo eingeleitet. Die sanften Klänge und die warme, angenehme Stimme passten zur Stimmung in der Kirche. Gestuhlt war im Chor und die etwa 50, vorwiegend jugendlichen Besucher, hatten freien Blick in das Kirchenschiff und die Orgel. Northern Light Music Night ist der Name der ökumenischen Kirche Liestal. «Wir haben viele verschiedene Gäste. Aber immer gehört ein Licht dazu, das leuchtet», sagte Andi Stooss in seiner Begrüssung. «Unser Gast erlebte dunkle Seiten, erlebte aber auch, dass man eine zweite Chance bekommen kann.»
Rudolf Szabo stellte sich mit dem Satz «Vor euch steht ein Schwerverbrecher» vor. Er überfiel Banken und die Post und schlug einen Mann fast tot. Als Baby war er bei einer Pflegefrau, die ihn misshandelte. Er schrie viel und wurde deshalb in den Keller gesperrt. Da er nicht allein sein konnte und wollte, war dies für ihn eine kaum zu ertragende Situation. Zufällig entdeckte sein Vater, als er ihn abholte, wie er im Gitterbett im eigenen Dreck lag. Der Vater nahm ihn wieder zurück zu sich. Dieser war mit der Erziehung überfordert und verprügelte ihn immer wieder. Zur Kanalisierung seiner Aggressionen und Verhaltensauffälligkeit begann Szabo mit Kampfsport. Mit 14 verprügelte er seinen Vater. Von da an «machte ihm niemand mehr et-was».
Später kam die schönste Zeit seines Lebens. Er gründete eine Familie, hatte fünf Kinder und ein eigenes, erfolgreiches Baugeschäft. Szabo war ein guter Handwerker, aber ein schlechter Buchhalter. In seiner Überheblichkeit gab er mehr Geld aus, als er einnahm. Die Bank kündigte sein Geschäftskonto, das mit 300000 Franken im Minus stand. Jetzt übermannte ihn sein Zorn und die alten Feindbilder kehrten zurück. Was er im Babyalter erlebte, führte ihn durch sein ganzes Leben. Als Jugendlicher wandte er sich in seiner Not an einen Pfarrer. Statt Hilfe bekam er den Rat, an Gott zu beten. Dadurch wurde ihm nochmals bewusst: «Ich muss mir selbst helfen.»
Sieben Raubüberfälle
Seine wirtschaftlichen und privaten Probleme wirkten sich auf die Ehe aus. Seine Frau forderte hohe Alimente und drohte, dass er bei Nichtbezahlung seine Kinder nicht mehr sehen würde. Nach Seitensprüngen seiner Frau wollte er sie umbringen. Er änderte aber seine Meinung, da er sonst im Gefängnis landen würde und dann seine Kinder allein wären. Jetzt sah er keinen anderen Ausweg mehr, als wieder zur Selbsthilfe zu greifen. Szabo fühlte sich immer minderwertig. Im Militär lernte er bei den Grenadieren, wie man Leute umbringt und Überfälle plant. Dieses Wissen wurde nun angewendet. Sieben Raubüberfälle auf Post und Banken waren die Folge. Ein Opfer schlug er halb tot und ein kleines Mädchen nahm er als Geisel und hielt ihm eine Pistole an den Kopf. Für seine Taten wurde Szabo zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Davon musste er sechs Jahre absitzen. Aus dem Knast nahm er mit der Familie des Mädchens Kontakt auf. Dieses Erlebnis beschäftigt ihn heute noch. Die inzwischen erwachsene Frau litt viele Jahre sehr stark unter dem Überfall und wird ihr Leben lang die Folgen spüren.
«Die Einsamkeit und Vereinsamung im Gefängnis ist das, was einen fertig macht», erklärte Szabo. «Der Sinn des Lebens ist: Helft und unterstützt einander. Ihr seid die Zukunft – ihr Jungen. Und ihr werdet die Welt tragen.»
Jeder verdient eine zweite Chance
Rudolf Szabo weiss ganz genau, wovon er redet, wenn er mit Jugendlichen ins Gespräch kommt und ihnen authentisch zeigt, welche Folgen ihr Tun haben kann. Er verbüsste eine sechsjährige Gefängnisstrafe und wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Im Gefängnis wurden ihm seine Taten bewusst und er packte die zweite Chance, die ihm geboten wurde.
Sein Gefängnispfarrer fand einen guten Draht zu ihm, erzählte Szabo, «da er nicht missionierte». Der Pfarrer sah in ihm einen Menschen. Er machte mit diesem Geistlichen ganz andere Erfahrungen als zu seiner Jugendzeit. «Du musst mit deinem Schicksal fertig werden und nicht gegen Staat und Justiz wettern», wurde ihm geraten. «Es gibt keine Zufälle. Man hat die Wahl, Hilfe anzunehmen oder nicht anzunehmen.»
Schlimm war für den Vater, als er erfuhr, dass seine Kinder in der Schule geplagt wurden, da er ein Verbrecher war. Er liebte seine Kinder sehr und das war mit ein Grund für seine Kehrtwendung. Diesen Weg schlug Szabo ein. Er fand eine Therapeutin, die ihm die Stirn bot und mit der er seine Aggressionen in den Griff bekam. Das war ein weiterer wichtiger Wendepunkt in seinem Leben.
Helfer aus dem Gefängnis
Nach einer Naturkatastrophe in St. Gallen hatte er die Idee, Hilfe anzubieten. Zusammen mit einer Gruppe von Gefangenen wurden für den Hochwasserschutz Sandsäcke abgefüllt. Auch nach dem Sturm Lothar machte er sich nützlich. Da er kein Geld für Weihnachtsgeschenke hatte, machte er im Gefängnis einen Töpferkurs und stellte selbst Geschenke für seine Kinder her. Auch eine Zeitung wurde auf ihn aufmerksam und verfasste einen Bericht über ihn. Ihn interessierte der Journalismus. Da ihm aber die notwendige Ausbildung fehlte, blieb ihm diese Arbeit verwehrt. Ein Bild, das er malte, öffnete ihm eine weitere Türe. Es zeigte Hände an Gitterstäben. In der Sprechblase stand: «Papi, wenn chunsch hei?» Sein Pfarrer fragte, ob er es für einen Spendenaufruf verwenden dürfe. Er hatte damit grossen Erfolg. Ein Geschäftsmann entdeckte das Bild und wollte es erwerben. Szabo lehnte ab, stellte das Original aber für eine Vernissage zur Verfügung. Der Traum, Journalist zu werden, war immer noch da. Die Bank hielt ihn aber nicht für kreditwürdig, da er im Gefängnis sass und eine halbe Million Schulden hatte. Später fragte er den Geschäftsmann um Unterstützung. Dieser schloss mit ihm einen Vertrag ab und schrieb darunter: à fonds perdu. Auf die Frage, was das bedeute, bekam er die Antwort: Deine vertragliche Schuld ist getilgt. Er bekam diese Chance, weil er vom Pfarrer und Direktor gute Referenzen und Empfehlungen bekam. «Gsehsch, das isch Saat und Ernte», sagte der Pfarrer zu ihm.
Berufsbegleiter und Vermittler
Nach seiner Entlassung bemühte er sich, mit seinen Opfern in Kontakt zu kommen. Daraus entstanden Opfer-Täter-Gespräche, mit denen er Gefangenen zeigen will, was sie mit ihren Taten wirklich anrichten. Nach einer weiteren Ausbildung im pädagogischen Bereich engagierte sich Szabo 15 Jahre lang als Berufsbegleiter für ehemalige Häftlinge. «Junge Knackis sind schwer zu führen. Mir gelang das, weil ich selbst viel Scheiss machte», war sein Kommentar dazu. Als Stadtranger arbeitete er saisonal als Mitglied eines Teams, das auf der Gasse, am Dreirosenareal und in anderen Brennpunkten eingesetzt wird. Sie haben einen Ordnungsauftrag und sollen unter den verschiedenen sozialen Gruppen als Vermittler agieren.
Mit seinen öffentlichen Auftritten will Rudolf Szabo zeigen, dass jeder Kriminelle ein Böser ist. «Man wird dazu.» Er will aber auch vermitteln, dass es Beweggründe gibt, die dazu führen. Fast alle erlebten Missbrauch und Misshandlung. Und alle machen eine unterschiedliche Entwicklung durch, bevor sie Verbrecher oder «Drögeler» werden.
Rudolf Szabo hatte Glück, dass sein Leben diesen guten Verlauf nahm. Das gelingt nicht jedem. Er trug aber seinen Teil dazu bei, ohne den das nicht möglich ist. Und auf die Frage, wie viel Geld er stahl, warnte er die Zuhörer nochmals: «Du sollst nicht stehlen! Es geht nicht darum, wie viel es ist. Macht es nicht! Geht offen auf Menschen zu. Denn heute ist Einsamkeit eine der schlimmsten Krankheiten, die es gibt.»
Infos zur Krimi-Reihe: krimi-liestal.ch