Birmann-Stiftung übergibt Akten
Staatsarchiv Weiterer Baustein zur Aufarbeitung der Geschichte des Armen- und Fürsorgewesens
Der «Basellandschaftfliche Armenerziehungsverein» wurde 1848 gegründet, um fürsorgerische Aufgaben zu erfüllen und von Armut betroffene Kinder bei Pflegefamilien oder in Institutionen unterzubringen. 1965 gingen aus ihm die Kettiger- und die Birmann-Stiftung hervor. Letztere ist immer noch mit einem Beratungs-, Unterstützungs- und Begleitungsangebot aktiv. Ende letztes Jahr hat sie einen Grossteil ihres historischen Archivs an das Staatsarchiv Basel-Landschaft übergeben – für Staatsarchivarin Jeannette Rauschert «ein wichtiger Baustein für die gesamthafte Aufarbeitung der Geschichte des Armen- und Fürsorgewesens im Kanton.»
Von besonderer Bedeutung sind die Dossiers der Klient/-innen, darunter die Akten zur Platzierung von Kindern von 1853 bis 1962 in den Heimen Augst und Schillingsrain. «Für Betroffene ist die Aufarbeitung der eigenen Geschichte im Kontext der Gesamtüberlieferung des Kantons dadurch leichter möglich», erklärt Jeannette Rauschert. Es gebe diesbezüglich immer noch Anfragen, allerdings habe die Frequenz abgenommen. Ausserdem seien die Jahrgänge der Betroffenen beziehungsweise Opfer jünger geworden und auch die Hintergründe hätten sich verändert: «Es melden sich jetzt häufig Pflegekinder oftmals mit Migrationshintergrund», stellt Jeannette Rauschert fest.
Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und sogenannte «Fremdplatzierungen» waren früher in der ganzen Schweiz gang und gäbe. Manche Betroffenen leiden heute noch darunter, dass Familien auseinandergerissen wurden und über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde. Der Tonfall, in dem die erhaltenen Akten geschrieben sind, lassen erahnen, dass früher Moralvorstellungen herrschten, die sich von den heutigen unterscheiden – allein schon die Bezeichnung «Armenerziehungsverein» mag heute Stirnrunzeln hervorrufen.
Die früheren «persönlichkeitsverletzenden Kategorisierungen und Bewertungen» in den Akten seien für Betroffene und Angehörige manchmal nur schwer zu ertragen, ist sich Jeannette Rauschert bewusst. Vor der Einsichtnahme im Staatsarchiv würden sie deshalb darauf vorbereitet. Für Beratung und Unterstützung, auch bei der Aktensuche, komme ausserdem der Opferhilfe beider Basel eine wichtige Rolle zu, die sich übrigens am Domizil der Birmann-Stiftung in Liestal befinde.
Während die Dossiers der Klient/-innen nur auf Anfrage einsehbar sind, können andere Unterlagen auf der Webseite memory.bl recherchiert werden. Im Kanton Baselland fehle leider eine Überblicksdarstellung im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, wie sie inzwischen in sehr vielen Kantone eingerichtet worden sei, bedauert Jeannette Rauschert. Immerhin: Die Übergabe der Akten der Birmann-Stiftung steigere insgesamt die Bedeutung des Staatsarchivs als zentrale Anlaufstelle für Heimakten und Akten im Zusammenhang mit verschiedenen fürsorgerischen Massnahmen.
Der Kanton Basel-Landschaft hat sich 2021 bei den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen und ihren Angehörigen für das erfahrene Leid entschuldig. Als Zeichen der Erinnerung wurden 13 «Gedankenbänke» aufgestellt. «Es wäre wünschenswert, wenn diesen wichtigen Zeichen auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas insgesamt für den Kanton Baselland folgen würde, wie dies in anderen Kantonen bereits getan wurde», meint Jeannette Rauschert. Die Deutschschweizer Armenerziehungsvereine seien umfassend in einer Dissertation aufgearbeitet worden, eine spezielle Aufarbeitung der Geschichte des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins und der nachfolgenden Stiftungen seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart stehe aber noch aus.
Armut damals und heute: ähnliche Problematik
Bei der Birmann-Stiftung wurde schon länger diskutiert, die Unterlagen zu übergeben, um einen unproblematischen Zugang zu ermöglichen und die Anforderungen an eine zeitgemässe, «unverdächtige» und vollprofessionelle Archivierung zu erfüllen, wie Stiftungspräsident Roland Plattner erläutert. Vorarbeiten seien schon mit der früheren stellvertretenden Staatsarchivarin Mireille Othenin-Girard geleistet worden.
Bei allen Unterschieden zu früheren Zeiten – die Problematiken im Zusammenhang mit Armut sind vielfach dieselben geblieben. Armut könne beispielsweise ein Trigger sein, der familiären Stress verursache, sagt Roland Plattner. Armutsbetroffene hätten zudem immer noch mit Stigmatisierung und Erschwernissen zu kämpfen. Was aber auch gleich geblieben sei: «Die Solidarität von Menschen, ohne welche spendenfinanzierte Organisationen, die sich der Linderung der Folgen von Armut widmen, ihre Aufgaben nicht wahrnehmen könnten.»